Deutsche Bildungsrakete zündet nicht!
Deutsches Bildungssystem im internationalen Vergleich
Weltbeste Bildung. Bei uns Liberalen ist dieser Begriff auch bekannt als unser Mondfahrprojekt. Wie bei jedem großen Mondfahrprojekt, braucht es auch hier nicht nur einen guten Plan, sondern auch den Willen und die Kraft, dieses Projekt erfolgreich zu vollenden.
Ist weltbeste Bildung denn wirklich eine Raketenwissenschaft? Eines ist schonmal klar: Der Begriff weltbeste Bildung impliziert, dass die Qualität von Bildung messbar ist und Bildungssysteme vergleichbar sind. Das „Programme for International Student Association“ (PISA) ist eine international anerkannte Schulleistungsstudie mit dem Ziel, die Schulsysteme von 38 OECD-Staaten zu vergleichen (1). Deutschland landete beim letzten PISA Bildungsranking auf Platz 14 und liegt somit nur im Mittelfeld der teilnehmenden Länder (2). Lichtjahre entfernt von weltbester Bildung!
Dabei ist Bildung unser einziger Rohstoff in Deutschland. Wir haben kein Öl, Gas oder seltene Erden. Dafür aber schlaue Köpfe, die wir durch unser jetziges Bildungssystem aber nicht bestmöglich ausbilden, um unseren Wohlstand auch in Zukunft zu sichern.
Wie aber kommen wir zu der weltbesten Bildung an unseren Schulen?
Bevor man sich fragt, wie weltbeste Bildung bei uns aussehen könnte, sollte man sich erstmal damit beschäftigen, was Bildung ist. Einer der bedeutenden Vordenker zu diesem Thema, Wilhelm von Humboldt, definierte Bildung bereits im 19. Jahrhundert als: „Die Anregung aller Kräfte des Menschen, damit diese sich über die Aneignung der Welt entfalten und zu einer sich selbst bestimmenden Individualität und Persönlichkeit führen“ (3). Seit dieser Zeit hat sich in unserer Welt zwar wahnsinnig viel verändert, aber die Definition von v. Humboldt ist aktueller denn je. Bildung beruht auf der Aneignung von sozialen, akademischen und kognitiven Fähigkeiten für Individuen, damit diese zu eigenständigen und eigenverantwortlichen Personen heranwachsen können. Bildung macht die Bürger mündig und verstärkt so die Teilhabe des Individuums an der Gesellschaft.
Die unterschiedlichen Bildungssysteme in unserer Welt setzten diese Aufgabe von Bildung unterschiedlich gut um. Da das deutsche Bildungssystem laut PISA bestenfalls im Mittelfeld spielt, sollte geprüft werden, ob und wie man von alternativen Bildungssystemen lernen kann. Dabei muss man nicht weit über die eigenen Landesgrenzen hinwegschauen, um z.B. einen privaten Bildungsanbieter, der weltweit – auch hier in Deutschland – zu finden ist und dem öffentlichen deutschen Schulsystem in vielen Bereichen zeigt, wie Bildung besser funktionieren könnte. Gemeint ist der Bildungsanbieter International Baccalaureate Organization, der mit seinem Bildungssystem International Baccalaureate (IB) seit 1968 existiert. Im Jahr 2022 wurde das IB an 5.500 Schulen in 160 verschiedenen Ländern angeboten (4).
Welche Aspekte spielen eine wichtige Rolle in der Qualität der Bildung
Um das IB Bildungssystem nun mit dem Deutschen Bildungssystem zu vergleichen, braucht man bestimmte Kriterien, die für exzellente Bildung erfüllt werden müssen. Durch die vorher erwähnte Definition von Bildung kann man drei Aspekte herleiten, die eine wichtige Rolle in der Qualität der Bildung spielen: Individualität, Transparenz und Objektivität.
Individualität
Der erste Aspekt ist die Individualität. Wie schon zuvor erwähnt, geht es bei der Bildung um die persönliche Entfaltung der Individuen. Da die Aneignung von Lerninhalten und Fähigkeiten bei jedem Schüler in Abhängigkeit seiner Begabungen, seiner Motivation und seinem Fleiß unterschiedlich erfolgt, braucht es eine individuelle Wissensvermittlung, die sich auf die verschiedenen Lernwege und Lerngeschwindigkeiten für jedes Individuum anpassen kann. Realität im deutschen Schulalltag ist aber, dass eine „Verkopfung der Jugend“ (5) stattfindet. Gemeint ist hiermit, dass unsere Schulausbildung sich zu sehr auf die Heranbildung junger Akademiker konzentriert. Berufswege im Handwerk oder als Facharbeiter gelten inzwischen als zweitklassig. Dies führt zu erheblichen Problemen auf unserem Arbeitsmarkt, die wir aktuell schon an unserem Fachkräftemangel spüren. Jeder, der einen Handwerker sucht, weiß wovon hier die Rede ist.
Beginnen wir nun mit dem direkten Vergleich des deutschen Abiturs mit dem IB (International Baccalaureate). Schon die regelkonforme Auswahl der Fächerkombination im deutschen Abitur ist so kompliziert, dass es Schüler und Eltern an die Grenzen der Überforderung bringt. Es geht bei der Auswahl eben nicht nur um die einzelnen Fächer, sondern auch um die Stundenzahl pro Woche (natürlich je Jahrgangsstufe unterschiedlich) und Fächer, die nur über einen bestimmten Zeitraum oder nur „halb“ genommen werden. Man nimmt 4 Fächer schriftlich ins Abitur, zwei davon sind die beiden gewählten Leistungskurse, die anderen beiden (drittes und viertes Abiturfach) sind zwei Grundkurse, die man vorher schriftlich belegt hat. Dabei muss darauf geachtet werden, dass die gewählten Fächer, die man schriftlich ins Abitur nimmt, einen der beiden Schwerpunkte (Sprache oder Naturwissenschaft) umfassen. Diese Regeln gelten aber nicht einheitlich bundesweit, sondern jedes Bundesland hat eigene Regeln. Umzug während der gymnasialen Oberstufe? Lieber nicht!
Ganz anders beim IB: Hier gibt es 6 Fächergruppen aus denen 3 Leistungs- und 3 Grundkurse gewählt werden. So kann man seinen eigenes IB-Profil entsprechend persönlicher Neigungen und beruflichen Zielen zusammenstellen.
Transparenz
Der zweite Aspekt ist die Transparenz. Hier geht es um eine umfangreiche und nachvollziehbare Bewertung der Leistungen. Sowohl Schüler als auch Eltern sollten jederzeit einen Überblick darüber haben, wo genau die Stärken und Schwächen gerade liegen. Auch die Lehrpläne, der Kursinhalte und die Bewertungskriterien der Prüfungen und Arbeiten in jedem einzelnen Fach sollten einfach verfügbar sein, damit man seine Lernziele klar vor Augen hat und weiß, welche Leistung für die gewünschte Note notwendig ist.
Wenn man sich das deutsche Bildungssystem speziell in den weiterführenden Schulen anschaut, stellt sich die Frage: Kann das breite Spektrum an Wissen und Fertigkeiten, die der Schüler während seiner Schullaufbahn erlernt, alles nur in eine Note gepresst werden? Während es im deutschen Abitur in der Oberstufe nur zwei Mal jährlich je Fach eine Note gibt, erhält der IB-Schüler vier Zeugnisse jährlich und somit doppelt so oft ein Feedback zu seinem Leistungsstand. Außerdem gibt es beim IB neben einer Gesamtnote noch viele weitere wichtige Informationen zu jedem einzelnen Fach.
Zusätzlich gibt es hier eine Benotung des Lernverhaltens, den Lernfortschritt und darüber hinaus auch eine persönliche Beurteilung des Lehrers mit Hinweisen auf bestehendes Verbesserungspotential. Zu all dem gibt es dann noch die (unverbindliche) prognostizierte Abschlussnote, die sich aus den bisher gezeigten Leistungen und der individuellen Prognose des Lehrers ergibt. Im Vergleich hierzu schneidet das deutsche Bildungssystem in Bezug auf Transparenz deutlich schlechter ab.
Objektivität
Der letzte Aspekt ist die Objektivität. Die Leistung eines Schülers muss an bestimmten, für alle gleichermaßen geltenden Maßstäben gemessen werden und darf nicht von den Kriterien und Vorstellungen der Lehrer abhängen. Diese Objektivität ist aber leider nicht ganz in der mündlichen Benotung der Schüler von Lehrern wiederzufinden. Im Abitur gibt es mehrere Fächer (die Anzahl variiert), in denen die erbrachte Leistung eines Schülers vom Lehrer mündlich benotet wird.
Zwar kann man bei der mündlichen Bewertung einen gewissen pädagogischen Aspekt und eine scheinbar akkuratere Benotung der Leistung des Schülers sehen. Jedoch ist die mündliche Benotung rein subjektiv und erscheint Schülern und Eltern oft unfair, da sie nicht immer nachvollziehbar ist und schon gar nicht objektiviert werden kann. Dies kann Schüler demotivieren, weil sie nicht verstehen, wo der Lehrer die Defizite sieht. Somit fehlt auch oft der konkrete Ansatz, wie man seine Noten verbessern kann. Wenn dann auch vom Lehrer keine spezifischen Verbesserungsvorschläge kommen, fühlt sich der Schüler ohnmächtig der “Macht” seines Lehrers über die Abiturnoten ausgeliefert. Siehe hierzu auch den Punkt Transparenz.
Beim IB ist die Objektivität essenziell. Während wir es in Deutschland noch nicht mal schaffen ein Abitur von NRW oder Bayern zu vergleichen, ist der IB Abschluss aus über 160 Nationen 100% vergleichbar. Dies ist möglich durch die standardisierte und objektive Bewertung. Die Abschlussnote aller Fächer basiert auf schriftlichen und mündlichen Prüfungen sowie die zum deutschen Abitur äquivalente Facharbeite, die ungefähr 25% der Note in jedem Fach ausmachen. Schriftliche und mündliche Prüfungen (in Form von Audio-Aufnahmen) sowie Facharbeiten werden anonym zum IB geschickt, wo sie dann standardisiert nach Mark-Schemes korrigiert werden. Diese Bewertungsregeln können nach Abschluss der Prüfungen eingesehen werden und man weiß genau, wie sich eine Note zusammengesetzt hat. Dass Religion, Geschlecht oder etwa Sympathie oder Antipathie zum Lehrer einen Einfluss auf die Note haben, ist somit ausgeschlossen.
Wie können wir unser Bildungssystem verbessern?
Es darf aber auch nicht unerwähnt bleiben, dass IB-Schulen in Deutschland nur ein „Nischenprodukt“ sind. In Deutschland gibt es Stand 2020, 83 Schulen, welche das IB anbieten. Nur zwei davon sind staatliche Schulen. Die restlichen 81 sind reine Privatschulen (6). Die Preise für ein Schuljahr betragen pro Kind oftmals 15.000 € pro Jahr oder mehr. Als Liberale setzen wir uns jedoch für die Bildungsgerechtigkeit und Chancengleichheit in unserem Land ein. Der sozio-ökonomische Hintergrund eines Kindes sollte deshalb keinen Einfluss auf die Qualität der Bildung haben.
Deswegen gibt es zwei potenzielle Wege, wie wir unser Bildungssystem verbessern können. Der erste Weg wäre es zu versuchen, die öffentlichen Schulen in Deutschland aus eigener Kraft in den drei Aspekten: Individualität, Transparenz und Objektivität zu verbessern, um so in dem Bemühen um weltbeste Bildung einen ordentlichen Schritt nach vorne zu gelangen. Für diesen Weg sind Vergleiche mit anderen Bildungssystemen, wie z.B. in diesem Artikel, sehr sinnvoll. Diese dadurch resultierenden neuen Konzepte könnten dann zum Beispiel an Talentschulen zuerst umgesetzt werden. Die Vorreiter mit den besseren Bildungssystemen, wie etwa das IB, sind in diesem Bezug durch ihr „Proof of Concept“ eine große Unterstützung.
Der zweite Weg, die schulische Ausbildung unserer Jugend zu verbessern, wäre die Öffnung der gesamten Palette von unterschiedlichen Bildungsangeboten für jedermann durch staatliche Bildungsgutscheine. Pro Jahr gibt der Staat für jeden Schüler im Durchschnitt über alle Schularten ca. 8.500 € aus – im Gymnasium sind es 9.600 € (7). Wenn der Staat nun für jedes Kind, das durch den Besuch einer privaten Schule auf einen öffentlichen Schulplatz verzichtet, das eingesparte Geld in Form eines Bildungsgutscheines erstatten würde, wäre private Bildung für viel mehr Schüler erreichbar.
So können wir das Problem, dass exzellente Bildung zu viel kostet, eindämmen. Durch die niedrigere finanzielle Hürde steigt die Nachfrage. Diese stärkt dann wiederum das Angebot der Bildungssysteme und öffnet den Wettbewerb um die weltbeste Bildung hier in Deutschland. Am Ende steht vielleicht neben dem Satz „Der Staat ist nicht der Bessere Unternehmer“, auch der neue Satz: „Der Staat ist nicht der bessere Schulanbieter“.
Bildung als Prozess der Individualisierung
Zusammenfassend kann Bildung als ein Prozess der Individualisierung verstanden werden. Die drei wesentlichen Aspekte: Individualität, Transparenz und Objektivität motivieren Schüler bessere schulische Leistungen zu erbringen und sich dadurch mehr Wissen und Fähigkeiten anzueignen.
Jetzt ist es an der Zeit unser Mondfahrt Projekt “Weltbeste Bildung” voranzubringen und frei von Ideologien und Denkverboten an einem neuen Bildungskonzept zu arbeiten. Das Mondfahrprojekt Apollo 11 schien auch erst unmöglich, bevor es umgesetzt wurde. Zünden wir jetzt die deutsche Bildungsrakete!
Benedict Stolle, Cologne International School Absolvent – Klasse 2021
Benedict Stolle ist ein ehemaliger Absolvent der Cologne International School und studiert derzeit an der Rotterrdam School of Management den Studiengang International Business Administration. Ganzer Artikel wurde im Freiraum – 02/2022, S. 64-67 veröffentlicht.
Finden Sie hier weitere Informationen über unsere Bilinguale Grundschule und unsere Bilinguale weiterführende Schule.
Quellenverzeichnis:
1: Bundes Ministerium für Bildung und Forschung „PISA – internationale Schulleistungsstudie URL: https://www.bmbf.de/bmbf/de/bildung/bildung-im-schulalter/pisa-internationale-schulleistungsstudie/pisa-internationale-schulleistungsstudie_node.html [Stand: 23.7.2022]
2: OECD Betterlife Index „Bildung” URL: https://www.oecdbetterli-feindex.org/de/topics/education-de/ [Stand: 23.7.2022]
3: Bax, Miriam (2011) „Bildung – Was ist das eigentlich?“ URL: https://www.bildungsxperten.net/wissen/was-ist-bildung/ [Stand: 23.7.2022]
4: International baccalaureate „Fact and Figures” URL: https:// www.ibo.org/about-the-ib/facts-and-figures/#:~:text=Num- ber%20of%20schools%20offering%20IB,5%2C500%20school- s%20in%20160%20countries. [Stand: 23.7.2022]
5: Klauth, Jan (2022) „Die heikle Verkopfung der Jugend“ URL: https://www.welt.de/wirtschaft/karriere/bildung/article239794395/Generation-Z-Die-heikle-Verkopfung-der-Jugend.html?icid-=search.product.onsitesearch [Stand: 22.7.2022]
6: Berg, Kim (2020) „Im internationalen Umfeld lernen“ URL: https://www.deutschland.de/de/topic/wissen/internationale-schulen-in-deutschland-ein-ueberblick
[Stand: 22.7.2022]
7: Statistisches Bundesamt „Ausgaben für öffentliche Schulen“ URL: https://www.destatis.de/DE/Presse/Pressemitteilungen/2022/02/PD22_047_217.html