Freiheit

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September 10, 2020

Es ist Sonntag Mittag, also kurz nach dem Frühstück und kurz vor der Rückkehr an den Schreibtisch zur Planung und Vorbereitung für die kommende Woche. Zeit, ein ganz besonderes, nicht alltägliches Ritual zu zelebrieren: die Briefwahl zu Bürgermeister_in, Mitglied des Gemeinderats, Mitglied des Kreistags, Landrat/rätin.

Ich weiß, viele sagen, dass man seiner staatsbürgerlichen, moralischen Pflichtübung am besten nachkomme, in dem man in Anzug und Krawatte am eigentlichen Wahltag das örtliche, zugewiesene Wahllokal aufsucht. Ich finde: Ja, Aber. An der Wahlurne würde ich mir niemals die Zeit nehmen, sämtliche Listen genau durchzulesen, vielleicht nochmal zu recherchieren, wofür die eine oder andere Person oder Partei auf kommunaler Ebene inhaltlich steht, und mich gedanklich mit der Tragweite meiner Entscheidung auseinander zu setzen – immer in dem (vermutlich eingebildeten) Glauben, ich hielte andere Menschen auf, die zu eben diesem Ziel zufällig zur gleichen Zeit ins Wahllokal gekommen sind und auch noch etwas von ihrem wohlverdienten Sonntag haben möchten. Das stresst mich.

Im heimischen Zimmer dagegen ist der Tisch komplett leergeräumt – eine Seltenheit in meiner Wohnung. Ein weiterer Becher Kaffee kommt dazu, Sinnbild des seltenen Luxus’ einer ganz persönlichen Auszeit in der heutigen hektischen Welt. Und schon liegen vor mir viele Zettel unterschiedlicher Farben, die meine von höchster demokratischer Stelle wertgeschätzte Meinung einfordern und sogar persönlich abholen. Wie großartig ist das, bitte?!

“… sogar in Farbe ausgedruckt!” – das war und ist für Schüler_innen vieler Schulen, die nur über Schwarz-weiß-Kopierer verfügen, bis weit in die heutige Zeit Ausdruck eines Kompliments, einer Wertschätzung gegenüber ihrem Lehrer / ihrer Lehrerin. Und auch ich empfinde beim Anblick der Stimmzettel Wohlwollen und Anerkennung dessen, was hier regelmäßig an Arbeit und Geld investiert wird, um uns Bürger_innen an der Regierung teilhaben zu lassen – wo es doch so viel einfacher ginge, wie ich schaudernd mit Blick auf die Nachrichtenlage feststelle. Farbe, das steht für Vielfalt, für Modernität, für Leben. Genau meine Welt, genau der Grund, warum ich so gerne an der IFK bin.

Unweigerlich drängt sich ein weiterer Begriff in meine Assoziationskette: “Freiheit”. Ein großes Wort, wenn man Alt-Bundespräsident Gauck Vertrauen schenkt. Ohne Freiheit gäbe es keine authentische Meinung, keine kritische Presse, keine mich nach Neuseeland führende Reise. Freiheit, ein hohes Gut, das wir als so selbstverständlich betrachten, dass wir sie freiwillig temporär einschränken (lassen), weil sich ein Virus ausbreitet – in dem festen Vertrauen darauf (und mit z.B. judikativer Kontrolle), dass diese Einschränkungen auch wieder zurückgenommen werden, wenn die Zeit reif ist. Freiheit, ein zentrales Schlagwort im Konzept des American Dream, über den ich gerade im Leistungskurs Englisch in der Q1 unterrichte. Ich möchte, dass es meinen Schüler_innen möglich ist und bleibt, Freiheiten zu leben, wie ich sie genießen darf und durfte. Auch in den Vereinigten Staaten wird bald wieder gewählt, auf höchster Ebene. Wie wird sich das auf die Freiheit aller Menschen auswirken?

An der IFK denken wir oft im großen Maßstab: Unsere Vision und Mission beschreiben, dass wir Verantwortung für eine bessere Zukunft übernehmen möchten, u.a. indem wir mit der Welt im Austausch stehen. Unsere Klassen- und Projektfahrten beschränken sich selten auf NRW, oft geht es ins europäische Ausland, nach Ghana oder Lateinamerika. Unsere Studienberatung unterstützt auch mit Gutachten und Bewerbungshilfe für Harvard, wenn gewünscht. Und doch fängt es oft genug im Kleinen an: Global denken, lokal handeln, oder in der Sprache unserer Mission: zunächst einmal uns füreinander einsetzen, zunächst einmal unsere eigenen (Lern)Wege gestalten, zunächst einmal selbst anfangen, kritisch zu hinterfragen. Schon das Fach Social Studies in Klasse 5 beschäftigt sich in diesen Tagen mit der Frage, welche (persönlichen) Vor-, aber auch welche (kollektiven) Nachteile es hat, wenn es nur einen König gibt, der über alles entscheidet. Der Zusatzkurs Sozialwissenschaften der Q2 hat sich ausgiebig mit den Programmen der größeren Parteien zur Kommunalwahl auseinandergesetzt und deren Positionen für ihre ebenfalls wahlberechtigten Stufenkolleg_innen in einem 13-seitigen, farblich passend gestalteten Dokument zusammengetragen und über ihren gemeinsamen Classroom mit ihnen geteilt. So kann jede_r seiner/ihrer Verantwortung für den Erhalt unserer Freiheit, für den Fortschritt der Modernität und für die Sicherheit und Vielfalt in unserem Leben gerecht werden. Angebote gibt es genug, jetzt liegt es im positivsten Sinne wieder einmal an uns, die Besten bzw. das Beste auszuwählen. Wie das gelingt? Auch dazu habe ich selbstverständlich eine Meinung – aber an dieser Stelle sollte ich wohl nicht nur an meine persönliche Freiheit denken, sie herausposaunen zu dürfen… 😉

Und so geht es bei mir am Ende diesmal doch überraschend schnell: die vier Kreuze sind gesetzt, die Stimmzettel in den richtigen (blauen) Umschlag gesteckt, der Wahlschein ist unterschrieben und zusammen mit dem blauen Umschlag im roten Umschlag verschwunden. Diese Zeit haben wir alle, ob im Wahllokal oder zu Hause. Ich finde, wir sollten sie uns nehmen – für unsere Zukunft, für unsere Lebens- und Arbeits-Community(s), für unsere Freiheit. Und auch wenn die Wahl eine persönliche Überzeugung ausdrückt, so ist es sicherlich nicht verkehrt, dabei an jene Menschen in unserem Umfeld zu denken, die an dieser Kommunalwahl nicht teilnehmen dürfen, sei es z.B. aus Alters- oder Staatsangehörigkeitsgründen, oder nicht teilnehmen können. Wen würden sie wohl wählen?

Fabian Prolingheuer, Gymnasium bilingual +